Monday, August 11, 2014

Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Schwäche und dem „Opfer“-Begriff

Eine Schwäche ist entweder eine fehlende körperliche Kraft, eine körperliche Unterlegenheit einem Menschen oder einer Sache gegenüber, oder eine charakterliche Eigenschaft die man als unvollkommen oder verbesserungswürdig ansieht. Jeder Mensch hat Schwächen. Sie gehören genauso zu uns, wie unsere Stärken.
Wenn doch jeder Mensch Schwächen hat, wieso fällt es uns oft so schwer uns selbst oder vorallem anderen gegenüber sich diese Schwächen einzugestehen? Wieso hat das Wort „Schwäche“ so eine negative Konnotation, wenn es doch eigentlich eine ganz natürliche Eigenschaft ist, sowohl Schwächen als auch Stärken zu haben?
Ist es das perfektionistische Bedürfnis, keine Unvollkommenheit zu haben? Ist es der gesellschaftliche Leistungsdruck der uns suggeriert, dass wir alles immer richtig machen müssen, dass wir in allem gut sein müssen? Oft wird Schwäche nicht als neutrales „das kann ich noch nicht so gut“ verstanden, sondern als grundlegender Fehler der Persönlichkeit gewertet. Niemand hat ein Problem damit zu sagen „chinesisch kann ich nicht“, aber charakterliche oder persönlichere Schwächen scheinen verpöhnt. Könnte man Schwäche nicht auch als etwas neutrales sehen, dass man genauso wie die chinesische Sprache einfach noch nicht gelernt hat? Wer das Alphabet nie gelernt hat, kann auch nicht Harry Potter lesen. Wir würden aber doch auch nicht auf den Gedanken kommen einem kleinen Kind vorzuwerfen, dass es nicht Harry Potter lesen kann. Sicherlich gibt es die Möglichkeit das Lesen noch zu lernen. Genauso gibt es bei vielen (nicht allen) Schwächen die Möglichkeit sie zu verändern, und das Ungerlernte sich noch anzueignen. Aber bevor wir es lernen können, geht dem erstmal die Schwäche (die man verändern möchte oder auch nicht) voraus.
Wieso hat Schwäche also so einen schlechten Ruf? Wieso kann man nicht einfach sagen „hey das hier ist etwas, das kann ich noch nicht so gut (genauso wie chinesisch sprechen)“. Ist es neben dem ständigen Bedürfnis zur Perfektion vielleicht auch die Angst davor sich verletzbar machen zu können? Nach dem Motto: Wenn ich zu meinen Schwächen stehe, zeige ich meinem Gegenüber einen möglichen Angriffspunkt.

Für viele Menschen, stellt das Opfer-sein eine Schwäche da. Sicherlich ist man in Situationen, in denen man zum Opfer wird, oft schwächer (und sei es nur eine körperliche Unterlegenheit) als der Angreifer. Ist diese Tatsache aber denn etwas, was man dem Opfer vorwerfen könnte?
Tante Wiki erklärt den Begriff Opfer wie folgt: „Drittens hat „Opfer“ auch ein semantisches Feld, in dem es darum geht, dass jemand durch jemanden oder durch etwas Schaden erleidet oder umkommt, etwa das „Opfer“ eines Verkehrsunfalls oder einer Lawine wird, oder dass Menschen „Opfer des Faschismus“ oder eines anderen gewalttätigen Regimes werden.“
Wenn mich jemand angreift und dabei psychisch und/oder körperlich verletzt, dann ist doch die Beschreibung, dass ich Schaden erlitten habe, durchaus treffend. In welcher Weise sagt die Beschreibung, dass ich Schaden erlitten habe, irgendwas über meine Persönlichkeit aus? Wie kommt es dazu, dass so viele Menschen bei dem Begriff „Opfer“ in Abwehrhaltung geraten oder es sogar als Beschimpfung benutzen? Wenn jemand sich dazu entschließt mir Schaden zu zufügen, dann sagt das doch nichts über mich, sondern eher was über ihn aus. Trotzdem hör ich den Begriff „Täter“ nie als Schimpfwort, das Wort „Opfer“ hingegen schon.
Ich weiß, dass viele Opfer das Wort „Betroffene“ vorziehen, und ich versuche mich auch weitesgehend danach zu richten (auch wenn mir noch immer mal wieder das Wort „Opfer“ rausrutscht). Opfer impliziert, dass ich in einer Situation die passive Leidempfängerin war, dass ich keine Kontrolle oder Macht über die Situation hatte. Diese Vorstellung der Kontroll- und Machtlosigkeit ist für viele unertragbar, daher scheint es einfacher zu sagen, man sei „betroffen“ gewesen. Dazu kommt die gesellschaftliche Wahrnehmung und Wertung des Opferbegriffs. Aber auch hier, genauso wie bei manch anderen absurden „Beleidigungen“ (z.B. behindert, schwul, Mädchen, krank usw.), seh ich das Problem nicht in dem Begriff an sich, sondern darin wie die Gesellschaft mit dem Begriff umgeht und ihm umwertet. Opfer ist erstmal eine neutrale Beschreibung für eine Situation in der man durch jemanden oder etwas Schaden erlitten hat. Da die Gesellschaft aber so eine Angst vor Schwäche hat, bzw. davor sich in irgendeiner Form verletzbar zu machen, ist der Begriff zu einem Schimpfwort verkommen.
Dass ich in einer Situation zum Opfer geworden bin, sagt nichts über meinen Charakter aus. Ich muss nicht mein ganzes Leben lang machtlos bleiben, und zum Opfer geworden zu sein, definiert mich und mein Wesen auch nicht.

Gerade im Bezug zu sexuellen Belästigungen oder feministischen Themen im Allgemeinen (sehr gut beobachtbar gewesen während der Sexismusdebatte letztes Jahr), muss frau sich oft anhören „ihr macht doch alle Frauen zu Opfern“ oder „macht dich nicht selbst zum Opfer“. Gerade den letzten Satz empfinde ich als sehr ignorant und verhöhnend. Man kann sich schon per Defnition nicht selbst zum Opfer machen. Und überhaupt, wieso sollte das jemand wollen? Niemand ist gerne Opfer. Opfer-sein bedeutet Machtlosigkeit, fehlende Kontrolle über eine Situation, und einen erlittenen Schaden. Dazu kommt die gesellschaftliche Stigmatiserung von Opfern. Wieso sollte sich das irgendjemand freiwillig aussuchen? Das macht absolut keinen Sinn.



Wir müssen weg kommen von dem Gedanken, es sei beschämend Opfer zu sein oder Schwächen zu haben/zeigen. Jeder Mensch hat Schwächen, das ist ganz natürlich und keine Wertung über den Charakter eines Menschen.
Einen Schaden zu erleiden, also in einer Situation ein Opfer zu sein, sagt nichts, aber auch gar nichts über den Charakter eines Menschen aus. Dass ich einer Aktion ausgesetzt war, definiert mich nicht, sondern sagt nur was über den Akteur aus. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen zum Opfer geworden zu sein.

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