Monday, February 2, 2015

Selbstverletzendes Verhalten - so viel mehr als "ein bisschen 'ritzen'"

Inhaltsanmerkung/TW: Selbstverletzendes Verhalten




Vorgestern trendete auf Twitter der Hashtag #RedenStattRitzen. Eine nett gemeinte, aber vollkommen kontraproduktive Verharmlosung eines ernstzunehmenden Problems.
Vor gut einer Woche veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel zum Thema Selbstverletzendes Verhalten (SVV). Ich möchte diesen Artikel an dieser Stelle nicht verlinken, da er von vorne bis hinten voller gefährlicher Halbwahrheiten und Klischees trieft. Wer ihn trotzdem lesen will, wird ihn auch so finden.


Eigentlich sollte mein nächster Blogpost sich mit einem ganz anderen Thema beschäftigen, aber momentan habe ich das Bedürfnis ein paar Worte zu SVV zu schreiben.


Es gibt viele Falschvorstellungen zu SVV, die sich sehr penetrant in den Köpfen der Menschen halten. Es gibt zu wenig Aufklärung, zu wenig Raum offen über eigene Erfahrungen sprechen zu können, und ein viel zu großes Stigma.


So wird zum Beispiel oft angenommen, „ritzen“ wäre ein Modetrend von Jugendlichen, eine schlechte Angewohnheit von pubertären Teenies, die frustriert seien wegen Liebeskummer oder Streit mit den Eltern. Tatsächlich aber ist SVV in den meisten Fällen ein Symptom einer zugrunde liegenden,schwerwiegenden psychischen Erkrankung wie z.B. Depressionen, Borderline oder PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung). Und auch für die Fälle, in deine keine Erkrankung diagnostiziert wird gilt: SVV ist immer ein Ausdruck eines schwerwiegender, tieferliegender Probleme. Warum auch sollte sich ein Mensch einfach so die eigene Haut aufschneiden? Immer wieder. Und wieder. Oft über Jahre, manchmal auch über Jahrzehnte hinweg.


Auch die Vorstellung von SVV wären nur Jugendliche betroffen, ist schlichtweg falsch.
Als ich zum ersten Mal zur Rasierklinge griff war ich 22. Was genau der Auslöser oder die Ursache war, kann ich bis heute nicht sagen. Kurz zuvor hatte ich ein Erlebnis mit einem Mann gehabt, über das ich hier im Blog noch nie geschrieben habe und über das ich auch jetzt nicht genauer schreiben möchte. Nur so viel: Es war grenzüberschreitend, potentiell traumatisierend, und es geschahen Dinge die ich nicht wollte. Ob dieses Erlebnis der Auslöser war, ob es meine Depression war, ob es eine Mischung aus beidem oder etwas ganz anderes war, kann ich wie gesagt nicht beurteilen. Was ich weiß: Es war keine „kleine Teenieverstimmung“, kein Modetrend, keine pubertäre Macke, kein Liebeskummer und keine Boybandtrennung.
Ich weiß auch, dass ich keine Ausnahme bin. Ich habe einige Menschen, die teilweise noch weitaus älter sind als ich kennen gelernt, die sich selbst verletzen.


Den meisten Nicht-Betroffenen fällt es schwer nachzuvollziehen warum ein Mensch auf die Idee kommt sich selbst zu verletzen. Da ich es für mich selbst so schwer greifen kann, liefere ich meistens die Standardaussagen aus der Psychologie: Die Gründe können unter anderem Selbsthass, emotionale Leere oder regelmäßige innere Anspannungszustände sein. Wer sich selbst hasst, wählt – meist unbewusst – SVV als Mittel um sich zu bestrafen für all das was er_sie an sich als unzulänglich/unerträglich/bestrafenswert empfindet. Menschen die z.B. aufgrund einer psychischen Erkrankung (wie Depressionen oder Borderline) sich oft innerlich abgestumpft und leer fühlen, versuchen durch den körperlichen Schmerz irgendwie einen Weg zu finden noch irgendwas zu empfinden, eine verzweifelte Suche nach Gefühl. Für Menschen, die (meist auch aufgrund einer Erkrankung) mit ständigen innerlichen Anspannungszuständen zu kämpfen haben, kann SVV ein Ventil zum Druck ablassen bedeuten.


Meist fängt es bei mir mit einem Bedürfnis oder direkt einem Druck an mich selbst zu verletzen. Manchmal kann ich mir in etwa herleiten, woher der Druck gerade kommt, manchmal gibt es aber auch gar keinen erkennbaren Auslöser. In den Momenten, in denen es einen erkennbaren Auslöser gab, lag es oft an Situationen, Gedanken, Grübelspiralen oder Erinnerungen, die Selbstvorwürfe und Selbsthass auslösten. Manchmal, aber nicht immer, gab es einen Zusammenhang zu dem Erlebnis mit dem Mann.
Nicht immer wenn der Druck da war, musste ich dann auch zwangsläufig handeln. Manchmal konnte ich es so aushalten, manchmal war der Druck zu groß.


SVV ist nicht traurig-schön, SVV ist furchtbar hässlich. Es ist Zeichen eines hässlichen Kampfs mit sich selbst, den ich niemandem wünsche.
Die äußerlichen Narben erinnern mich immer an meine noch viel tieferen, inneren Narben. Jedes Mal, wenn ich mich umziehe oder dusche sehe ich diese Erinnerungen. Ich bin noch an keinem Punkt angelangt, an dem ich mich mit den Narben „versöhnen“ kann. Noch hasse ich sie. Noch hasse ich jeden Blick auf meinen Arm beim umziehen. Noch hasse ich jeden Sommer, in dem ich nicht wie alle anderen kurze Klamotten tragen oder ins Schwimmbad gehen kann. Noch hasse ich sie jedes Mal, wenn ich jemandem näher komme, und er sie sehen könnte. Noch verzweifel ich bei jedem Blick auf alte Fotos, in denen ich kurze Kleidung trug, einen unverletzten Körper hatte, der eine unverletzte Seele darstellte. An den Punkt kann ich nicht mehr zurück, die Narben bleiben – die sichtbaren genauso wie die unsichtbaren.


Ich bin mittlerweile, bis auf zwei kleinere Rückfälle, seit über einem Jahr „clean“. Aber ähnlich wie bei Suchtkranken (denn eigentlich ist SVV genau das: eine Sucht), bin ich zwar „trocken“ aber nie wirklich „geheilt“. Das Bedürfnis mich selbst zu verletzen, habe ich noch ab und an. Aber der Druck ist ein wenig schwächer und vorallem seltener geworden. Wenn ich den Druck verspüre, schaffe ich es mittlerweile leichter ihn auszuhalten. Doch die Rückfallgefahr bleibt.


Ich wünsche mir, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der ich über dieses Thema unter meinem Klarnamen schreiben kann. Ich wünsche mir, mehr offene Debatten, weniger Tabuisierung, weniger Falschvorstellungen und Mythen, weniger Stigmatisierung und dafür mehr Informationen für Nicht-Betroffene und mehr Gehör für die Betroffenen.
All das wünsche ich mir übrigens auch von „Fachleuten“/Therapeuten/Psychiatern/Pflegern. Auch bei ihnen herrscht noch viel Ignoranz, Mythen, und Stigmatisierung bezüglich SVV.
So habe ich zum Beispiel irgendwann angefangen, wenn ich einen neuen Behandler kennen lernte, das SVV so lange wie möglich zu verheimlichen. Auch sie verfallen beispielsweise oft dem Irrglauben, dass jede_r SVV-Betroffene automatisch Borderline-erkrankt sei. Dabei ist Borderline eine Persönlichkeitsstörung mit neun möglichen Symptomen, von denen mindestens 5 vorhanden sein müssen, damit ein Patient die Diagnose erhält. SVV ist nur eins dieser neun Symptome. Wenn Behandler von Anfang an von meinem selbstverletzenden Verhalten wussten, ordneten sie mich schnell fälschlicherweise als Borderline-Erkrankte ein, was zu für meine Erkrankung unpassenden und kontraproduktiven Behandlungen führte. Verheimlichte ich das SVV zu Beginn der Behandlung, kamen sie nie auf die Idee, dass ich Borderline haben könnte, da ich sonst keine der sonstigen Symptome aufwies.


Auch ist es oft schwer Ärzten/Therapeuten/Pflegern verständlich zu machen, dass Skills kein Allheilmittel sind. Sogenannte „Skills“ sind Sachen die man machen kann, wenn der Druck sich selbst zu verletzen auftritt. Es gibt eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Skills; von Ablenkung durch z.B. fernsehen zu leichteren „Selbstverletzungen“ wie z.B. Chilischoten essen oder an Amoniak riechen. Nicht jedem helfen alle Skills, vielen helfen auch gar keine Skills. Einigen helfen manche Skills in manchen Situationen, und in anderen wiederum gar nicht.
Mir persönlich haben Skills nie wirklich was gebracht. Ich brauchte keine Schmerzverlagerung, und ablenken konnte ich mich sowieso nicht von dem Druck. Ich brauchte diesen einen, spezifischen Schmerz. Doch auch für diejenigen, denen Skills helfen: Auf Dauer lösen sie das zugrunde liegende Problem nicht. Sie können höchstens eine kurzfristige Feuerwehr im akuten Moment darstellen.




Wenn ich über (meine) Depressionen spreche, werde ich oft gefragt „was kann ich als Angehörige/Freund tun?“. Ich nehme an, die Frage stellen sich wahrscheinlich auch einige beim Thema SVV. Und auch hier kann ich meine Antwort bezüglich Depressionen eigentlich nur wiederholen: Jede_r Betroffene ist anders, es gibt keine Pauschalantwort. Gestern erst las ich einen Text einer Betroffenen (siehe Link am Ende des Posts), indem sie schreibt, dass sie am liebsten gar nicht auf ihre Narben angesprochen werden will. Das ist bei mir anders: Zugegeben, man sieht meine Narben selten, da ich mich so gut wie nie traue Klamotten zu tragen, bei denen man sie sehen würde. Aber wenn man von meinen Narben weiß oder sie doch mal zu sehen bekommt, habe ich prinzipiell nichts dagegen darauf angesprochen zu werden. Die Frage ist halt immer wer mich mit welcher Intention anspricht. Eine ernstgemeinte Frage, von jemandem der mir wohlgesonnen ist und die vorallem keine Veurteilungen enthält, ist mir meist lieber als ein komplettes ignorieren des Problems.
Daher ist wohl der einzige pauschale Rat den man geben kann: Informiert euch, urteilt nicht, und geht mit ein bisschen Feingefühl vor. Falls ihr die Person ansprechen wollt, formuliert eure Frage so, dass der_diejenige die Möglichkeit hat zu sagen, dass er_sie nicht darüber sprechen möchte.




Hier ein Link zu einem Text einer Betroffenen, mit einigen weiterführenden Links zu Informationsseiten, Selbsthilfeforen und Anlaufstellen am Ende des Texts:

http://kleinerdrei.org/2015/02/schmerz-outsourcing-zu-selbstverletzendem-verhalten/