Tuesday, July 22, 2014

Betroffene von sexueller Gewalt? Pff, ich doch nicht.

 Trigger Warnung!!!


Ein Post auf einem Blog mit dem Namen „Die Störenfriedas“ hat mich dazu veranlasst nachzudenken und schlußendlich diesen Text zu verfassen.
In dem Post schreibt eine Betroffene, wie sie erst durch die #Aufschrei-Aktion (= Betroffene posteten bei Twitter über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexueller Gewalt) realisiert hat, dass sie selbst Betroffene ist. Ihr Text fängt mit folgender Aussage an: „Bis vor nicht allzu langer Zeit hätte und habe ich auf die Frage ob ich jemals Beziehungsgewalt erlebt habe voller Überzeugung und ohne zu zögern „Nein“ geantwortet.“ Im Laufe des Posts erzählt sie, dass sie sehr wohl Betroffene von Beziehungsgewalt (zwei emotional gewalttätige Beziehung und eine Vergewaltigung durch den eigenen Freund) geworden ist, dies aber bis #Aufschrei nie realisiert und das Geschehene nie als Gewalt eingeordnet hatte.
Am Ende des Posts fragt sie sich: „Wie vielen Frauen geht es wie mir, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie Betroffene von Gewalt sind?“
Antwort: Vermutlich sehr sehr vielen. Und ich war/bin eine von ihnen.


Diejenigen unter den Lesern, die weder Betroffen sind, noch sich je intensiver mit dem Thema (sexueller) Gewalt auseinander setzen mussten, werden sich jetzt vielleicht fragen: „Häh, wie kann das sein? Wie kann man nicht wissen, ob man Opfer von Gewalt wurde? Das kriegt man doch mit, wenn einen einer vergewaltigt?“
Das Problem ist, wir leben in einer Gesellschaft, die durchflutet ist mit Vergewaltigungsmythen (d.h. falschen Vorstellung zum Thema sexuelle Gewalt) und victim-blaming (Schuldvorwürfe an die Opfer) (Google: „rape myths/Vergewaltigungsmythen“, „victim-blaming“, und „rape culture“). Viele stellen sich das, durch Medien geprägte und weiter verbreitete, „klassische“ Szenario unter einer Vergewaltigung: Das heißt ein psychopathisches Monster lauert im Gebüsch hübschen Joggerinnen auf und vergewaltigt sie dann mit einem Messer an ihrer Kehle oder schwester körperlicher Gewaltanwendung. Sicher, diese Szenarien gibt es. Sie stellen allerdings eine Minderheit an Vergewaltigungen dar. Über 80% aller Sexualstraftaten werden nicht von Fremden, sondern dem Opfer bekannten Personen wie z.B. Freunde, Partner, Bekannte, Verwandte begangen. Es ist also – so traurig das auch ist - wesentlich ungefährlicher nachts alleine durch die Straßen zu laufen, als einem Freund oder dem eigenen Partner zu vertrauen.
Bei vielen Sexualstraftaten kommt es auch nicht zur massiven Gewaltanwendung, da sich das Opfer oft nicht wehrt. Das ist nicht die Schuld des Opfers, sondern eine sehr weit-verbreitete Schutzreaktion in traumatischen bzw. gefährlichen Situationen: Das Opfer könnte entweder Angst haben, dass körperliche Gegenwehr den Täter noch weiter provoziert, oder aber es befindet sich in einer Schockstarre und hat daher gar nicht die Möglichkeit zu reagieren (Schock ist ein normaler psychischer Abwehrmechanismus in solchen Situationen). Und dann gibt es natürlich auch noch die Situationen, in denen die Betroffene gar nicht ihr Einvernehmen geben oder entziehen kann, da sie zu betrunken ist, unter Drogen steht, oder schläft.
Vergewaltigung (und im folgenden beziehe ich mich nicht ausschließlich auf die juristische Definition, denn die ist sehr fragwürdig, was ich vielleicht mal in einem späteren Post näher erläutern werde) bedeutet nicht, dass das Opfer sich körperlich wehren muss, schreien muss, oder überhaupt laut und deutlich „nein“ gesagt haben muss (auch ein „lieber nicht“, „ich weiß nicht“, weinen, oder regungsloses daliegen kann als „nein“ interpretiert werden). Vergewaltigung bedeutet, dass jemand ohne das Einverständnis einer anderen Person, entweder mit dem Penis anal, oral oder vaginal in sie eindringt oder sie mit den Fingern oder einem Gegenstand vaginal (weiß nicht ob auch anal) penetriert. Ebenso eine Vergewaltigung ist, wenn ein Mann gezwungen wird jemand anderen zu penetrieren.
Eine sexuelle Nötigung sind sexuelle Handlungen ohne Einverständnis der anderen Person, bei denen es nicht zur Penetration kommt (die aber ähnlich schwerwiegende Konsequenzen für die Psyche der Betroffenen haben können).
Wenn ihr auf der sicheren Seite sein wollt, kann ich euch empfehlen „enthusiastic consent“ oder „yes means yes“ zu googlen.


Zusätzlich zu den gesellschaftlich und medial verbreiteten falschen Vorstellung und Mythen zum Thema sexueller Gewalt, kommen noch typische psychische Reaktion nach so einer Tat erschwerend hinzu: Die Betroffenen minimieren das Geschehene oft und geben sich selbst die Schuld dafür. Dadurch, dass man sich selbst einredet, dass es „schon nicht so schlimm war“ muss man sich der Wahrheit bzw. der Realität, die schlimm war, nicht stellen. Zusätzlich ist es für die Psyche oft zu schwer zu aktzeptieren, dass man in einer Situation vollkommen machtlos und ohne Kontrolle über die eigene körperliche/seelische Integrität war. Indem man sich sagt „ich hätte etwas anders machen können“ und sich selbst die Schuld gibt, gaukelt sich die eigene Psyche vor, dass man doch irgendwie Kontrolle gehabt hätte.
Auf lange Sicht sind klein-reden des Erlebten und Schuldvorwürfe an sich selbst, natürlich kontraproduktiv im Heilungsprozess, aber zunächst einmal sind es sehr übliche durchaus normale Reaktionen auf so ein Trauma, die gar nicht so einfach abzulenken sind (umso schädlicher sind noch von außen hinzukommende victim-blaming-Kommentare und Vergewaltigungsmythen).




So viel zur theoretischen Einführung in das Thema. Aber was hat das jetzt alles mit mir zu tun? Seitdem ich 2011 auf einem Slutwalk war (eine Demonstration gegen sexuelle Gewalt, Vergewaltigungsmythen, victim-blaming und rape culture. Google: Slutwalk, victim-blaming, Vergewaltigungsmythen, rape culture), habe ich angefangen mich mit dem Thema sexueller Gewalt/rape culture im Speziellen und Feminismus im Allgemeinen näher auseinander zu setzen. Ich fand das Thema der sexuellen Gewalt schon immer wichtig, und war auch schon immer der Meinung, dass Vorstellung wie „kurze Röcke führen zu Vergewaltigung“ großer Quatsch sind (als Feministin habe ich mich zu dem Zeitpunkt noch nicht gesehen, das kam später erst). Viel mehr wusste ich zu dem Thema damals allerdings noch nicht.
Ähnlich wie die Autorin des Blogposts auf „Störenfrieda“ hätte ich auf die Frage „Hast du schon mal einen sexuellen Übergriff erlebt?“ ganz entschieden und eindeutig mit „nein“ geantwortet. Mir taten Betroffene leid und ich wollte mich auch gern für sie einsetzen, aber ich war keine von ihnen...dachte ich zumindest.
Anfang 2012 kam es zu einem Erlebnis, dass ich bis heute nicht richtig benennen und einordnen kann, bei dem auf jeden Fall Alkohol und nicht-wirklich-gewollter-Sex im Spiel war. Mehr werde ich zu dem Ereignis an dieser Stelle nicht sagen, aber darum geht’s mir grad eigentlich auch nicht. Im Rahmen dieses Erlebnisses (das mich noch länger beschäftgen sollte), kamen bei mir Erinnerungen an zwei andere, Jahre zurück liegende Geschichten hoch. Da ich mich zu der Zeit auch mit dem Thema sexuelle Gewalt und „consent“ (=Einvernehmen) beschäftigte, fing ich an zu überlegen ob bei diesen zwei Sachen damals vielleicht doch nicht so ok waren.


Trigger Warnung, ab hier folgen detailierte Beschreibungen!


Ich war 16, unterwegs in der U-Bahn, und wurde dort von einem Mann angesprochen. Ich fand ihn sympathisch und wir haben uns gut unterhalten. Er schlug vor, wir könnten zusammen einen Kaffee trinken gehen. Zunächst hatte ich noch Zweifel aus Sicherheitsgründen und so, aber er schien nett und irgendwann ließ ich mich doch überreden mit ihm mit zu gehen.
Er suchte sich das Cafe aus. Das Cafe streckt sich sehr in die Länge, die meisten Gäste waren am Eingang um einen Fernseher (ich glaub es lief Fußball) versammelt. Ich folgte ihm ohne groß nachzudenken, er hatte sich einen Platz ganz hinten ausgesucht.
Irgendwann wollte er mich küssen, ich blockte ihn ab. Soweit war noch alles ok. Doch plötzlich, ohne große Vorwarnung, spürte ich seine Hand unter meinem Rock in meiner Unterwäsche. Ich kannte ihn kaum, war noch sehr unerfahren mit Männern und wollte auf keinen Fall soweit gehen. Ich brauchte ein paar Sekunden bis ich reagieren konnte. Dann stand ich auf, und wollte eigentlich gehen. Aus welchem Grund auch immer, schaffte er es doch noch mich zu überreden noch fünf Minuten zu bleiben (allerdings setzte ich mich nach seiner Grabscherei nicht mehr neben ihn sondern auf den Stuhl gegenüber). Ich fühlte mich eklig und mehr als unwohl.
Ich habe nicht geschrien, ich habe ihm keine Ohrfeige verpasst, ich bin noch nicht mal sofort gegangen. Das alles waren Zeichen für mich, lange Zeit mir einzureden, dass ich es vielleicht doch auch wollte, und dass mein Ausbleiben an „passender“ Reaktion ein Zeichen dafür wäre, dass nichts schlimmes passiert sei (und im Zweifelsfall eh ich selbst schuld sei). Ich erinner mich dunkel daran, kurz nachdem es passiert ist, es einer (oder zwei?) Freundin erzählt zu haben. Sie gab mir die Schuld daran, dass ich mit dem Mann mitgegangen sei, und schien auch das Geschehene als nicht sonderlich schlimm war zu nehmen.
Ich legte das Erlebnis in der Kategorie „war nichts“ ab, redete mit niemandem mehr darüber, und verdrängte es für die nächsten sechs Jahre.




Mit 17 lernte ich bei einem Nebenjob einen wesentlich älteren Kollegen kennen. Er flirtete mit mir und machte mir Kompliment. Zunächst ging ich noch, aufgrund seines Alters, nicht darauf ein. Doch irgendwann begann ich ihn auch zu mögen. Wir fingen an uns regelmäßig SMS zu schreiben und uns öfter zu treffen.
Nachdem ich ihn schon eine Weile kannte, besuchte ich ihn auch mal zu Hause. Ich wollte ihn eigentlich nur ein bisschen besser kennen lernen, Zeit mit ihm verbringen, und gemeinsam mit ihm Fernsehen gucken. Vielleicht noch ein bisschen küssen, das wäre ok, mehr aber nicht. Ich war immer noch recht unerfahren mit Männern und wollte das erstmal auch noch nicht ändern.
Wir guckten eine Fernsehserie, von der wir allerdings nicht allzu viel mitbekamen, da er immer wieder versuchte mir näher zu kommen (was ich meistens abblockte). Irgendwann öffnete er, ohne irgendein Vorspiel oder Vorwarnung, seine Hose. Er zog meine Hand zu seinem Penis. Ich zog sie weg. Ich wollte ihn nicht anfassen, zumindest nicht so. Er zog meine Hand wieder hin, ich zog sie wieder weg. Er zog meine Hand wieder hin, ich zog sie wieder weg. So ging das noch eine ganze Weile hin und her. Irgendwann, nach unzähligen Versuchen meine Hand weg zu ziehen, gab ich nach. Ich weiß nicht mehr, ob er meine Hand so fest gehalten hatte, dass ich nicht mehr weg ziehen konnte oder ob ich einfach so nachgegeben hatte. Sicher war, dass ich das was dann passierte eigentlich nicht wollte. Ich fühlte mich währenddessen und danach absolut eklig und widerlich, und konnte auch danach längere Zeit erstmal keinen Mann mehr so anfassen.
Aber auch in dieser Situation redete ich mir ein, dass nichts schlimmes passiert sei. Ich habe nie verbal „nein“ gesagt, ich habe mich nicht ausreichend gewehrt, ich habe mich nach dieser Sache sogar noch ein paar Mal mit ihm getroffen (Wieso auch nicht? Ich dachte ja nicht, dass er irgendwas falsch gemacht hätte). Auch diesmal buchte ich das Erlebte unter „war nichts“ ab, redete mit niemanden drüber, und verdrängte es für die nächsten fünf Jahre.




Es hat mich viele Jahre, viel Einlesen in das Thema, und Therapie gebraucht, bis ich mittlerweile endlich sagen kann, dass das sexuelle Übergriffe waren (auch wenn ich mir die Worte oft selbst immer noch nicht glaube. Fällt schwer sich einzugestehen, dass man selbst Betroffene ist).
Ein „ja“ zum Kaffee trinken, bedeutet nicht automatisch, dass man an intimen Stellen angefasst werden möchte. Und es war dem Mann auch vollkommen egal, ob ich es möchte oder nicht, er hat es einfach getan. Ich habe ihm in keinerlei Weise zu verstehen gegeben, dass ich das will. Dass ich nicht so reagiert habe, wie ich es im nachhinein betrachtet gerne getan hätte, liegt einfach daran, dass ich von der Situation komplett überrumpelt war, und überhaupt nicht verstanden habe, was da gerade passiert. Ja, vielleicht stand ich auch ein wenig unter Schock.


Ein mehrmaliges „Hand weg ziehen“ ist ein ziemlich klares Zeichen dafür, dass ich ihn nicht anfassen möchte. Es war ihm allerdings vollkommen egal, ob ich es will oder nicht, es ging ihm nur darum seine Befriedigung zu bekommen.


Ich wurde zwar nicht vergewaltigt (wobei ich beim ersten Erlebnis nicht mehr weiß, ob er mit seinen Fingern auch...), aber ich bin – auch wenn das für mich immer noch surreal klingt – Betroffene von sexueller Nötigung. Diese Erlebnisse haben mich lange Zeit begleitet, aufgewühlt, und mich verändert.


Aber ja, auch ich wusste lange nicht, dass ich Betroffene bin, und ich bin mir sicher, dass es noch vielen anderen Frauen (und Männern und Trans*) so geht.

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* Ich schreibe von Betroffenen meistens in der weiblichen, und von Tätern in der männlichen Form. Damit will ich nicht sagen, dass es keine männlichen Betroffenen und keine weibliche Täterinnen gibt. Dass Leid männlicher Opfer bzw. Opfer von Täterinnen ist genauso schlimm, wie bei "klassischen" Konstellationen. Da allerdings in einer überwiegenden Mehrzahl der Fälle, dass Opfer weiblich und der Täter männlich (über 95% der Sexualstraftäter sind Männer) sind, habe ich mich zur vereinfachten Leserlichkeit für diese Formulierung entschieden.

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