Trigger Warnung!!!
Ein Post auf einem Blog mit dem Namen „Die Störenfriedas“ hat
mich dazu veranlasst nachzudenken und schlußendlich diesen Text zu
verfassen.
In dem Post schreibt eine Betroffene, wie sie erst durch die
#Aufschrei-Aktion (= Betroffene posteten bei Twitter über ihre
Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexueller Gewalt)
realisiert hat, dass sie selbst Betroffene ist. Ihr Text fängt mit
folgender Aussage an: „Bis vor nicht allzu langer Zeit hätte und
habe ich auf die Frage ob ich jemals Beziehungsgewalt erlebt habe
voller Überzeugung und ohne zu zögern „Nein“ geantwortet.“ Im
Laufe des Posts erzählt sie, dass sie sehr wohl Betroffene von
Beziehungsgewalt (zwei emotional gewalttätige Beziehung und eine
Vergewaltigung durch den eigenen Freund) geworden ist, dies aber bis
#Aufschrei nie realisiert und das Geschehene nie als Gewalt
eingeordnet hatte.
Am Ende des Posts fragt sie sich: „Wie vielen Frauen geht es wie
mir, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie Betroffene von Gewalt
sind?“
Antwort: Vermutlich sehr sehr vielen. Und ich war/bin eine von
ihnen.
Diejenigen unter den Lesern, die weder Betroffen sind, noch sich
je intensiver mit dem Thema (sexueller) Gewalt auseinander setzen
mussten, werden sich jetzt vielleicht fragen: „Häh, wie kann das
sein? Wie kann man nicht wissen, ob man Opfer von Gewalt wurde? Das
kriegt man doch mit, wenn einen einer vergewaltigt?“
Das Problem ist, wir leben in einer Gesellschaft, die durchflutet
ist mit Vergewaltigungsmythen (d.h. falschen Vorstellung zum Thema
sexuelle Gewalt) und victim-blaming (Schuldvorwürfe an die Opfer)
(Google: „rape myths/Vergewaltigungsmythen“, „victim-blaming“,
und „rape culture“). Viele stellen sich das, durch Medien
geprägte und weiter verbreitete, „klassische“ Szenario unter
einer Vergewaltigung: Das heißt ein psychopathisches Monster lauert
im Gebüsch hübschen Joggerinnen auf und vergewaltigt sie dann mit
einem Messer an ihrer Kehle oder schwester körperlicher
Gewaltanwendung. Sicher, diese Szenarien gibt es. Sie stellen
allerdings eine Minderheit an Vergewaltigungen dar. Über 80% aller
Sexualstraftaten werden nicht von Fremden, sondern dem Opfer
bekannten Personen wie z.B. Freunde, Partner, Bekannte, Verwandte
begangen. Es ist also – so traurig das auch ist - wesentlich
ungefährlicher nachts alleine durch die Straßen zu laufen, als
einem Freund oder dem eigenen Partner zu vertrauen.
Bei vielen Sexualstraftaten kommt es auch nicht zur massiven
Gewaltanwendung, da sich das Opfer oft nicht wehrt. Das ist nicht die
Schuld des Opfers, sondern eine sehr weit-verbreitete Schutzreaktion
in traumatischen bzw. gefährlichen Situationen: Das Opfer könnte
entweder Angst haben, dass körperliche Gegenwehr den Täter noch
weiter provoziert, oder aber es befindet sich in einer Schockstarre
und hat daher gar nicht die Möglichkeit zu reagieren (Schock ist ein
normaler psychischer Abwehrmechanismus in solchen Situationen). Und
dann gibt es natürlich auch noch die Situationen, in denen die
Betroffene gar nicht ihr Einvernehmen geben oder entziehen kann, da
sie zu betrunken ist, unter Drogen steht, oder schläft.
Vergewaltigung (und im folgenden beziehe ich mich nicht
ausschließlich auf die juristische Definition, denn die ist sehr
fragwürdig, was ich vielleicht mal in einem späteren Post näher
erläutern werde) bedeutet nicht, dass das Opfer sich körperlich
wehren muss, schreien muss, oder überhaupt laut und deutlich „nein“
gesagt haben muss (auch ein „lieber nicht“, „ich weiß nicht“,
weinen, oder regungsloses daliegen kann als „nein“ interpretiert
werden). Vergewaltigung bedeutet, dass jemand ohne das Einverständnis
einer anderen Person, entweder mit dem Penis anal, oral oder vaginal
in sie eindringt oder sie mit den Fingern oder einem Gegenstand
vaginal (weiß nicht ob auch anal) penetriert. Ebenso eine
Vergewaltigung ist, wenn ein Mann gezwungen wird jemand anderen zu
penetrieren.
Eine sexuelle Nötigung sind sexuelle Handlungen ohne
Einverständnis der anderen Person, bei denen es nicht zur
Penetration kommt (die aber ähnlich schwerwiegende Konsequenzen für
die Psyche der Betroffenen haben können).
Wenn ihr auf der sicheren Seite sein wollt, kann ich euch
empfehlen „enthusiastic consent“ oder „yes means yes“ zu
googlen.
Zusätzlich zu den gesellschaftlich und medial verbreiteten
falschen Vorstellung und Mythen zum Thema sexueller Gewalt, kommen
noch typische psychische Reaktion nach so einer Tat erschwerend
hinzu: Die Betroffenen minimieren das Geschehene oft und geben sich
selbst die Schuld dafür. Dadurch, dass man sich selbst einredet,
dass es „schon nicht so schlimm war“ muss man sich der Wahrheit
bzw. der Realität, die schlimm war, nicht stellen. Zusätzlich ist
es für die Psyche oft zu schwer zu aktzeptieren, dass man in einer
Situation vollkommen machtlos und ohne Kontrolle über die eigene
körperliche/seelische Integrität war. Indem man sich sagt „ich
hätte etwas anders machen können“ und sich selbst die Schuld
gibt, gaukelt sich die eigene Psyche vor, dass man doch irgendwie
Kontrolle gehabt hätte.
Auf lange Sicht sind klein-reden des Erlebten und Schuldvorwürfe
an sich selbst, natürlich kontraproduktiv im Heilungsprozess, aber
zunächst einmal sind es sehr übliche durchaus normale Reaktionen
auf so ein Trauma, die gar nicht so einfach abzulenken sind (umso
schädlicher sind noch von außen hinzukommende
victim-blaming-Kommentare und Vergewaltigungsmythen).
So viel zur theoretischen Einführung in das Thema. Aber was hat
das jetzt alles mit mir zu tun? Seitdem ich 2011 auf einem Slutwalk
war (eine Demonstration gegen sexuelle Gewalt, Vergewaltigungsmythen,
victim-blaming und rape culture. Google: Slutwalk, victim-blaming,
Vergewaltigungsmythen, rape culture), habe ich angefangen mich mit
dem Thema sexueller Gewalt/rape culture im Speziellen und Feminismus
im Allgemeinen näher auseinander zu setzen. Ich fand das Thema der
sexuellen Gewalt schon immer wichtig, und war auch schon immer der
Meinung, dass Vorstellung wie „kurze Röcke führen zu
Vergewaltigung“ großer Quatsch sind (als Feministin habe ich mich
zu dem Zeitpunkt noch nicht gesehen, das kam später erst). Viel mehr
wusste ich zu dem Thema damals allerdings noch nicht.
Ähnlich wie die Autorin des Blogposts auf „Störenfrieda“
hätte ich auf die Frage „Hast du schon mal einen sexuellen
Übergriff erlebt?“ ganz entschieden und eindeutig mit „nein“
geantwortet. Mir taten Betroffene leid und ich wollte mich auch gern
für sie einsetzen, aber ich war keine von ihnen...dachte ich
zumindest.
Anfang 2012 kam es zu einem Erlebnis, dass ich bis heute nicht
richtig benennen und einordnen kann, bei dem auf jeden Fall Alkohol
und nicht-wirklich-gewollter-Sex im Spiel war. Mehr werde ich zu dem
Ereignis an dieser Stelle nicht sagen, aber darum geht’s mir grad
eigentlich auch nicht. Im Rahmen dieses Erlebnisses (das mich noch
länger beschäftgen sollte), kamen bei mir Erinnerungen an zwei
andere, Jahre zurück liegende Geschichten hoch. Da ich mich zu der
Zeit auch mit dem Thema sexuelle Gewalt und „consent“
(=Einvernehmen) beschäftigte, fing ich an zu überlegen ob bei
diesen zwei Sachen damals vielleicht doch nicht so ok waren.
Trigger Warnung, ab hier folgen detailierte Beschreibungen!
Ich war 16, unterwegs in der U-Bahn, und wurde dort von einem Mann
angesprochen. Ich fand ihn sympathisch und wir haben uns gut
unterhalten. Er schlug vor, wir könnten zusammen einen Kaffee
trinken gehen. Zunächst hatte ich noch Zweifel aus
Sicherheitsgründen und so, aber er schien nett und irgendwann ließ
ich mich doch überreden mit ihm mit zu gehen.
Er suchte sich das Cafe aus. Das Cafe streckt sich sehr in die
Länge, die meisten Gäste waren am Eingang um einen Fernseher (ich
glaub es lief Fußball) versammelt. Ich folgte ihm ohne groß
nachzudenken, er hatte sich einen Platz ganz hinten ausgesucht.
Irgendwann wollte er mich küssen, ich blockte ihn ab. Soweit war
noch alles ok. Doch plötzlich, ohne große Vorwarnung, spürte ich
seine Hand unter meinem Rock in meiner Unterwäsche. Ich kannte ihn
kaum, war noch sehr unerfahren mit Männern und wollte auf keinen
Fall soweit gehen. Ich brauchte ein paar Sekunden bis ich reagieren
konnte. Dann stand ich auf, und wollte eigentlich gehen. Aus welchem
Grund auch immer, schaffte er es doch noch mich zu überreden noch
fünf Minuten zu bleiben (allerdings setzte ich mich nach seiner
Grabscherei nicht mehr neben ihn sondern auf den Stuhl gegenüber).
Ich fühlte mich eklig und mehr als unwohl.
Ich habe nicht geschrien, ich habe ihm keine Ohrfeige verpasst,
ich bin noch nicht mal sofort gegangen. Das alles waren Zeichen für
mich, lange Zeit mir einzureden, dass ich es vielleicht doch auch
wollte, und dass mein Ausbleiben an „passender“ Reaktion ein
Zeichen dafür wäre, dass nichts schlimmes passiert sei (und im
Zweifelsfall eh ich selbst schuld sei). Ich erinner mich dunkel
daran, kurz nachdem es passiert ist, es einer (oder zwei?) Freundin
erzählt zu haben. Sie gab mir die Schuld daran, dass ich mit dem
Mann mitgegangen sei, und schien auch das Geschehene als nicht
sonderlich schlimm war zu nehmen.
Ich legte das Erlebnis in der Kategorie „war nichts“ ab,
redete mit niemandem mehr darüber, und verdrängte es für die
nächsten sechs Jahre.
Mit 17 lernte ich bei einem Nebenjob einen wesentlich älteren
Kollegen kennen. Er flirtete mit mir und machte mir Kompliment.
Zunächst ging ich noch, aufgrund seines Alters, nicht darauf ein.
Doch irgendwann begann ich ihn auch zu mögen. Wir fingen an uns
regelmäßig SMS zu schreiben und uns öfter zu treffen.
Nachdem ich ihn schon eine Weile kannte, besuchte ich ihn auch mal
zu Hause. Ich wollte ihn eigentlich nur ein bisschen besser kennen
lernen, Zeit mit ihm verbringen, und gemeinsam mit ihm Fernsehen
gucken. Vielleicht noch ein bisschen küssen, das wäre ok, mehr aber
nicht. Ich war immer noch recht unerfahren mit Männern und wollte
das erstmal auch noch nicht ändern.
Wir guckten eine Fernsehserie, von der wir allerdings nicht allzu
viel mitbekamen, da er immer wieder versuchte mir näher zu kommen
(was ich meistens abblockte). Irgendwann öffnete er, ohne irgendein
Vorspiel oder Vorwarnung, seine Hose. Er zog meine Hand zu seinem
Penis. Ich zog sie weg. Ich wollte ihn nicht anfassen, zumindest
nicht so. Er zog meine Hand wieder hin, ich zog sie wieder weg. Er
zog meine Hand wieder hin, ich zog sie wieder weg. So ging das noch
eine ganze Weile hin und her. Irgendwann, nach unzähligen Versuchen
meine Hand weg zu ziehen, gab ich nach. Ich weiß nicht mehr, ob er
meine Hand so fest gehalten hatte, dass ich nicht mehr weg ziehen
konnte oder ob ich einfach so nachgegeben hatte. Sicher war, dass ich
das was dann passierte eigentlich nicht wollte. Ich fühlte mich
währenddessen und danach absolut eklig und widerlich, und konnte
auch danach längere Zeit erstmal keinen Mann mehr so anfassen.
Aber auch in dieser Situation redete ich mir ein, dass nichts
schlimmes passiert sei. Ich habe nie verbal „nein“ gesagt, ich
habe mich nicht ausreichend gewehrt, ich habe mich nach dieser Sache
sogar noch ein paar Mal mit ihm getroffen (Wieso auch nicht? Ich
dachte ja nicht, dass er irgendwas falsch gemacht hätte). Auch
diesmal buchte ich das Erlebte unter „war nichts“ ab, redete mit
niemanden drüber, und verdrängte es für die nächsten fünf Jahre.
Es hat mich viele Jahre, viel Einlesen in das Thema, und Therapie
gebraucht, bis ich mittlerweile endlich sagen kann, dass das sexuelle
Übergriffe waren (auch wenn ich mir die Worte oft selbst immer noch
nicht glaube. Fällt schwer sich einzugestehen, dass man selbst
Betroffene ist).
Ein „ja“ zum Kaffee trinken, bedeutet nicht automatisch, dass
man an intimen Stellen angefasst werden möchte. Und es war dem Mann
auch vollkommen egal, ob ich es möchte oder nicht, er hat es einfach
getan. Ich habe ihm in keinerlei Weise zu verstehen gegeben, dass ich
das will. Dass ich nicht so reagiert habe, wie ich es im nachhinein
betrachtet gerne getan hätte, liegt einfach daran, dass ich von der
Situation komplett überrumpelt war, und überhaupt nicht verstanden
habe, was da gerade passiert. Ja, vielleicht stand ich auch ein wenig
unter Schock.
Ein mehrmaliges „Hand weg ziehen“ ist ein ziemlich klares
Zeichen dafür, dass ich ihn nicht anfassen möchte. Es war ihm
allerdings vollkommen egal, ob ich es will oder nicht, es ging ihm
nur darum seine Befriedigung zu bekommen.
Ich wurde zwar nicht vergewaltigt (wobei ich beim ersten Erlebnis
nicht mehr weiß, ob er mit seinen Fingern auch...), aber ich bin –
auch wenn das für mich immer noch surreal klingt – Betroffene von
sexueller Nötigung. Diese Erlebnisse haben mich lange Zeit
begleitet, aufgewühlt, und mich verändert.
Aber ja, auch ich wusste lange nicht, dass ich Betroffene bin, und
ich bin mir sicher, dass es noch vielen anderen Frauen (und Männern
und Trans*) so geht.
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* Ich schreibe von Betroffenen meistens in der weiblichen, und von Tätern in der männlichen Form. Damit will ich nicht sagen, dass es keine männlichen Betroffenen und keine weibliche Täterinnen gibt. Dass Leid männlicher Opfer bzw. Opfer von Täterinnen ist genauso schlimm, wie bei "klassischen" Konstellationen. Da allerdings in einer überwiegenden Mehrzahl der Fälle, dass Opfer weiblich und der Täter männlich (über 95% der Sexualstraftäter sind Männer) sind, habe ich mich zur vereinfachten Leserlichkeit für diese Formulierung entschieden.
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