Inhaltsanmerkung/TW: Selbstverletzendes Verhalten
Vorgestern trendete auf Twitter der Hashtag #RedenStattRitzen.
Eine nett gemeinte, aber vollkommen kontraproduktive Verharmlosung
eines ernstzunehmenden Problems.
Vor gut einer Woche veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung
einen Artikel zum Thema Selbstverletzendes Verhalten (SVV). Ich
möchte diesen Artikel an dieser Stelle nicht verlinken, da er von
vorne bis hinten voller gefährlicher Halbwahrheiten und Klischees
trieft. Wer ihn trotzdem lesen will, wird ihn auch so finden.
Eigentlich sollte mein nächster Blogpost sich mit einem ganz
anderen Thema beschäftigen, aber momentan habe ich das Bedürfnis
ein paar Worte zu SVV zu schreiben.
Es gibt viele Falschvorstellungen zu SVV, die sich sehr penetrant
in den Köpfen der Menschen halten. Es gibt zu wenig Aufklärung, zu
wenig Raum offen über eigene Erfahrungen sprechen zu können, und
ein viel zu großes Stigma.
So wird zum Beispiel oft angenommen, „ritzen“ wäre ein
Modetrend von Jugendlichen, eine schlechte Angewohnheit von
pubertären Teenies, die frustriert seien wegen Liebeskummer oder
Streit mit den Eltern. Tatsächlich aber ist SVV in den meisten
Fällen ein Symptom einer zugrunde liegenden,schwerwiegenden
psychischen Erkrankung wie z.B. Depressionen, Borderline oder PTBS
(Posttraumatische Belastungsstörung). Und auch für die Fälle, in
deine keine Erkrankung diagnostiziert wird gilt: SVV ist immer ein
Ausdruck eines schwerwiegender, tieferliegender Probleme. Warum auch
sollte sich ein Mensch einfach so die eigene Haut aufschneiden? Immer
wieder. Und wieder. Oft über Jahre, manchmal auch über Jahrzehnte
hinweg.
Auch die Vorstellung von SVV wären nur Jugendliche betroffen, ist
schlichtweg falsch.
Als ich zum ersten Mal zur Rasierklinge griff war ich 22. Was
genau der Auslöser oder die Ursache war, kann ich bis heute nicht
sagen. Kurz zuvor hatte ich ein Erlebnis mit einem Mann gehabt, über
das ich hier im Blog noch nie geschrieben habe und über das ich auch
jetzt nicht genauer schreiben möchte. Nur so viel: Es war
grenzüberschreitend, potentiell traumatisierend, und es geschahen
Dinge die ich nicht wollte. Ob dieses Erlebnis der Auslöser war, ob
es meine Depression war, ob es eine Mischung aus beidem oder etwas
ganz anderes war, kann ich wie gesagt nicht beurteilen. Was ich weiß:
Es war keine „kleine Teenieverstimmung“, kein Modetrend, keine
pubertäre Macke, kein Liebeskummer und keine Boybandtrennung.
Ich weiß auch, dass ich keine Ausnahme bin. Ich habe einige
Menschen, die teilweise noch weitaus älter sind als ich kennen
gelernt, die sich selbst verletzen.
Den meisten Nicht-Betroffenen fällt es schwer nachzuvollziehen
warum ein Mensch auf die Idee kommt sich selbst zu verletzen. Da ich
es für mich selbst so schwer greifen kann, liefere ich meistens die
Standardaussagen aus der Psychologie: Die Gründe können unter
anderem Selbsthass, emotionale Leere oder regelmäßige innere
Anspannungszustände sein. Wer sich selbst hasst, wählt – meist
unbewusst – SVV als Mittel um sich zu bestrafen für all das was
er_sie an sich als unzulänglich/unerträglich/bestrafenswert
empfindet. Menschen die z.B. aufgrund einer psychischen Erkrankung
(wie Depressionen oder Borderline) sich oft innerlich abgestumpft und
leer fühlen, versuchen durch den körperlichen Schmerz irgendwie
einen Weg zu finden noch irgendwas zu empfinden, eine verzweifelte
Suche nach Gefühl. Für Menschen, die (meist auch aufgrund einer
Erkrankung) mit ständigen innerlichen Anspannungszuständen zu
kämpfen haben, kann SVV ein Ventil zum Druck ablassen bedeuten.
Meist fängt es bei mir mit einem Bedürfnis oder direkt einem
Druck an mich selbst zu verletzen. Manchmal kann ich mir in etwa
herleiten, woher der Druck gerade kommt, manchmal gibt es aber auch
gar keinen erkennbaren Auslöser. In den Momenten, in denen es einen
erkennbaren Auslöser gab, lag es oft an Situationen, Gedanken,
Grübelspiralen oder Erinnerungen, die Selbstvorwürfe und Selbsthass
auslösten. Manchmal, aber nicht immer, gab es einen Zusammenhang zu
dem Erlebnis mit dem Mann.
Nicht immer wenn der Druck da war, musste ich dann auch
zwangsläufig handeln. Manchmal konnte ich es so aushalten, manchmal
war der Druck zu groß.
SVV ist nicht traurig-schön, SVV ist furchtbar hässlich. Es ist
Zeichen eines hässlichen Kampfs mit sich selbst, den ich niemandem
wünsche.
Die äußerlichen Narben erinnern mich immer an meine noch viel
tieferen, inneren Narben. Jedes Mal, wenn ich mich umziehe oder
dusche sehe ich diese Erinnerungen. Ich bin noch an keinem Punkt
angelangt, an dem ich mich mit den Narben „versöhnen“ kann. Noch
hasse ich sie. Noch hasse ich jeden Blick auf meinen Arm beim
umziehen. Noch hasse ich jeden Sommer, in dem ich nicht wie alle
anderen kurze Klamotten tragen oder ins Schwimmbad gehen kann. Noch
hasse ich sie jedes Mal, wenn ich jemandem näher komme, und er sie
sehen könnte. Noch verzweifel ich bei jedem Blick auf alte Fotos, in
denen ich kurze Kleidung trug, einen unverletzten Körper hatte, der
eine unverletzte Seele darstellte. An den Punkt kann ich nicht mehr
zurück, die Narben bleiben – die sichtbaren genauso wie die
unsichtbaren.
Ich bin mittlerweile, bis auf zwei kleinere Rückfälle, seit über
einem Jahr „clean“. Aber ähnlich wie bei Suchtkranken (denn
eigentlich ist SVV genau das: eine Sucht), bin ich zwar „trocken“
aber nie wirklich „geheilt“. Das Bedürfnis mich selbst zu
verletzen, habe ich noch ab und an. Aber der Druck ist ein wenig
schwächer und vorallem seltener geworden. Wenn ich den Druck
verspüre, schaffe ich es mittlerweile leichter ihn auszuhalten. Doch
die Rückfallgefahr bleibt.
Ich wünsche mir, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben,
in der ich über dieses Thema unter meinem Klarnamen schreiben kann.
Ich wünsche mir, mehr offene Debatten, weniger Tabuisierung, weniger
Falschvorstellungen und Mythen, weniger Stigmatisierung und dafür
mehr Informationen für Nicht-Betroffene und mehr Gehör für die
Betroffenen.
All das wünsche ich mir übrigens auch von
„Fachleuten“/Therapeuten/Psychiatern/Pflegern. Auch bei ihnen
herrscht noch viel Ignoranz, Mythen, und Stigmatisierung bezüglich
SVV.
So habe ich zum Beispiel irgendwann angefangen, wenn ich einen
neuen Behandler kennen lernte, das SVV so lange wie möglich zu
verheimlichen. Auch sie verfallen beispielsweise oft dem Irrglauben,
dass jede_r SVV-Betroffene automatisch Borderline-erkrankt sei. Dabei
ist Borderline eine Persönlichkeitsstörung mit neun möglichen
Symptomen, von denen mindestens 5 vorhanden sein müssen, damit ein
Patient die Diagnose erhält. SVV ist nur eins dieser neun Symptome.
Wenn Behandler von Anfang an von meinem selbstverletzenden Verhalten
wussten, ordneten sie mich schnell fälschlicherweise als
Borderline-Erkrankte ein, was zu für meine Erkrankung unpassenden
und kontraproduktiven Behandlungen führte. Verheimlichte ich das SVV
zu Beginn der Behandlung, kamen sie nie auf die Idee, dass ich
Borderline haben könnte, da ich sonst keine der sonstigen Symptome
aufwies.
Auch ist es oft schwer Ärzten/Therapeuten/Pflegern verständlich
zu machen, dass Skills kein Allheilmittel sind. Sogenannte „Skills“
sind Sachen die man machen kann, wenn der Druck sich selbst zu
verletzen auftritt. Es gibt eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen
Skills; von Ablenkung durch z.B. fernsehen zu leichteren
„Selbstverletzungen“ wie z.B. Chilischoten essen oder an Amoniak
riechen. Nicht jedem helfen alle Skills, vielen helfen auch gar keine
Skills. Einigen helfen manche Skills in manchen Situationen, und in
anderen wiederum gar nicht.
Mir persönlich haben Skills nie wirklich was gebracht. Ich
brauchte keine Schmerzverlagerung, und ablenken konnte ich mich
sowieso nicht von dem Druck. Ich brauchte diesen einen, spezifischen
Schmerz. Doch auch für diejenigen, denen Skills helfen: Auf Dauer
lösen sie das zugrunde liegende Problem nicht. Sie können höchstens
eine kurzfristige Feuerwehr im akuten Moment darstellen.
Wenn ich über (meine) Depressionen spreche, werde ich oft gefragt
„was kann ich als Angehörige/Freund tun?“. Ich nehme an, die
Frage stellen sich wahrscheinlich auch einige beim Thema SVV. Und
auch hier kann ich meine Antwort bezüglich Depressionen eigentlich
nur wiederholen: Jede_r Betroffene ist anders, es gibt keine
Pauschalantwort. Gestern erst las ich einen Text einer Betroffenen
(siehe Link am Ende des Posts), indem sie schreibt, dass sie am
liebsten gar nicht auf ihre Narben angesprochen werden will. Das ist
bei mir anders: Zugegeben, man sieht meine Narben selten, da ich mich
so gut wie nie traue Klamotten zu tragen, bei denen man sie sehen
würde. Aber wenn man von meinen Narben weiß oder sie doch mal zu
sehen bekommt, habe ich prinzipiell nichts dagegen darauf
angesprochen zu werden. Die Frage ist halt immer wer mich mit welcher
Intention anspricht. Eine ernstgemeinte Frage, von jemandem der mir
wohlgesonnen ist und die vorallem keine Veurteilungen enthält, ist
mir meist lieber als ein komplettes ignorieren des Problems.
Daher ist wohl der einzige pauschale Rat den man geben kann:
Informiert euch, urteilt nicht, und geht mit ein bisschen Feingefühl
vor. Falls ihr die Person ansprechen wollt, formuliert eure Frage so,
dass der_diejenige die Möglichkeit hat zu sagen, dass er_sie nicht
darüber sprechen möchte.
Hier ein Link zu einem Text einer Betroffenen, mit einigen
weiterführenden Links zu Informationsseiten, Selbsthilfeforen und
Anlaufstellen am Ende des Texts:
http://kleinerdrei.org/2015/02/schmerz-outsourcing-zu-selbstverletzendem-verhalten/